- Jugoslawien: Vaterland der Südslawen
- Jugoslawien: Vaterland der SüdslawenWährend des 19. Jahrhunderts war das Ziel vieler nationaler Erwecker unter den Balkanslawen, alle Menschen mit einem südslawischen Idiom in einem gemeinsamen Staat zusammenzuführen. Mit der Gründung des Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen im Jahr 1918 ging dieser Wunschtraum aber nur teilweise in Erfüllung. Die Bulgaren versagten sich von Anfang an dem Experiment eines politischen Gemeinwesens, dessen Bewohner in ihrer bisherigen Geschichte außer der Sprache und der ethnischen Zuordnung nur wenige Gemeinsamkeiten aufzuweisen hatten. Unübersehbar war zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass sich zwischen den Regionen des südslawischen Siedlungsraumes erhebliche Unterschiede in den religiösen Bindungen und kulturellen Werten, den mentalen Strukturen, den Rechtsgewohnheiten und Verwaltungspraktiken sowie im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungsniveau verfestigt hatten. Während des Ersten Weltkrieges hatten die Slowenen und Kroaten dem Kaiser loyal gedient und ohne Murren gegen die Serben gekämpft. Dem serbischen Herrschergeschlecht Karaorević mangelte es nach dem Krieg an Integrationskraft, um die bisherigen Kriegsgegner zu versöhnen und in ein gemeinsames Staatswesen einzubinden.Die StaatsgründungNoch während des Krieges hatten sich am 20. Juli 1917 der serbische Ministerpräsident, Nikola Pašić, und der Vertreter des »Südslawischen Ausschusses« in London, Ante Trumbić, auf Korfu, am Exilort der serbischen Regierung und des Hofes, auf die Gründung eines gemeinsamen »dreinamigen« Königreiches verständigt. Die Deklaration von Korfu vermied es, die künftigen Verfassungsgrundsätze festzulegen. Dem »Jugoslawismus« als staatstragender Idee fehlte so eine verbindliche inhaltliche Auslegung. Die föderative Staatskonzeption der Kroaten ließ sich nur schwer mit den zentralistischen Vorstellungen der Serben vereinbaren, die zudem nur ungern auf ihre großserbischen Ambitionen verzichten wollten.Treibende Kräfte beim Zusammenschluss der südslawischen Völker waren in Slowenien, Bosnien-Herzegowina und Kroatien die Nationalräte. Sie hatten sich 1918 beim militärischen Zusammenbruch der Donaumonarchie als provisorische Regierungen gebildet und in einer Phase nationaler Euphorie die Bevölkerung auf das Einigungswerk eingestimmt. Der kroatische Landtag kündigte am 29. Oktober 1918 die staatsrechtliche Beziehung zu Ungarn und zu Österreich auf. Eine Delegation wurde am 28. November 1918 nach Belgrad entsandt, um die Modalitäten der Vereinigung mit dem Königreich Serbien zu regeln. Zuvor war in der Genfer Deklaration vom 9. November 1918 zwischen dem Slowenen Ante Korošec, dem Serben Nikola Pašić und dem Kroaten Ante Trumbić ausdrücklich die Gleichberechtigung der Staatsnationen bestätigt worden. Angesichts der Eröffnung der Pariser Friedenskonferenz und der dort zu treffenden Grenzregelungen sah sich Prinzregent Alexander Karaorević am 1. Dezember 1918 in Belgrad zu einer Proklamation des »Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen« veranlasst.Die territorialen Maximalforderungen, die teilweise weit über die Grenzen der ethnischen Siedlungsräume hinausgingen, waren in Paris nicht zu realisieren. Im adriatischen Küstenbereich hatten die Westmächte und Russland schon im Londoner Vertrag vom 26. April 1916 dem italienischen Verbündeten ganz Istrien und Dalmatien zugesagt. Am 12. September 1919 war Fiume (Rijeka) von Gabriele D'Annunzio und seinen Freischaren im Handstreich besetzt worden. Nach schwierigen Verhandlungen musste die Belgrader Regierung im Vertrag von Rapallo am 12. November 1920 auf Triest, Istrien, Zadar und die vorgelagerten Adria-Inseln verzichten und sich mit dem Zugeständnis eines Freistaates Fiume zufrieden geben. In Südkärnten entschied sich sogar die mehrheitlich slowenischsprachige Bevölkerung bei der Volksabstimmung vom 10. Oktober 1920 gegen eine Zugehörigkeit zum SHS-Staat (Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen).Die Vidovdan-VerfassungDas numerische Übergewicht wies den Serben als bestimmende politische Kraft eine Führungsrolle zu. Nach der Volkszählung von 1921 gehörten von den knapp 12 Millionen Einwohnern 74,4 Prozent zur serbokroatischen Staatsnation. Zusammen mit den Slowenen (8,5 Prozent) ergab sich ein slawischer Gesamtanteil von 82,9 Prozent. Zur nichtslawischen Minderheit zählten 4,2 Prozent Deutsche, 3,9 Prozent Ungarn und 3,8 Prozent Albaner. Nach der Religionsstatistik gehörten fast 47 Prozent zur orthodoxen und 39 Prozent zur katholischen Kirche, 11 Prozent bekannten sich zum Islam. Das konkurrierende Neben- und Gegeneinander der Serben und Kroaten verhinderte dauerhaft die Entstehung eines jugoslawischen Verfassungspatriotismus. Die Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung vom 3. September 1920 verhalfen den zentralistischen proserbischen Parteien zu einer relativen Stimmenmehrheit. Die republikanisch gesinnte Kroatische Bauernpartei unter Stjepan Radić, die in Kroatien einen Stimmenanteil von über 50 Prozent erreicht hatte und viertstärkste Partei geworden war, versagte jegliche Mitarbeit im Verfassungsausschuss. Ihre Vertreter blieben aus Protest auch der Endabstimmung über die Verfassung am 28. Juni 1921, dem Sankt Veitstag (serbokroatisch Vidovdan), fern. Dem Wahlboykott der Kroaten schlossen sich mehrheitlich auch die Abgeordneten aus Slowenien und Dalmatien an. Die Vidovdan-Verfassung räumte dem Monarchen eine starke Stellung ein. Sie schuf einen unitarischen Staat mit einem Einkammerparlament (Skupschtina) und nahm auf die Autonomiewünsche der Kroaten und Slowenen und auf die Rechte der Minderheiten nur wenig Rücksicht.Außenpolitisch sollte die Zusammenarbeit im Bündnissystem der Kleinen Entente einen relativen Schutz vor revisionistischen Forderungen der Nachbarn bieten. In der Adriafrage blieb das Königreich gegenüber dem italienischen Irredentismus in der schwächeren Position. Nach der Machtübernahme Benito Mussolinis 1922 war eine einseitige Lösung in Fiume nicht mehr aufzuhalten. Im Vertrag von Rom vom 27. Januar 1924 akzeptierte Belgrad die Annexion Fiumes durch Italien und sicherte sich im Gegenzug den Hafen Baroš. Ein Freundschaftsvertrag, der Adriapakt, sollte für die Zukunft engere Wirtschaftsbeziehungen anbahnen.KönigsdiktaturDie Verständigungsschwierigkeiten zwischen Belgrad und Zagreb lähmten das öffentliche Leben. Jeder Schritt der Regierung zur Bereinigung der Kriegsschäden, zur Sanierung der zerrütteten Staatsfinanzen, zur Vereinheitlichung der Wirtschaftsstrukturen und zum Ausgleich des eklatanten sozialen Entwicklungsgefälles zwischen den einzelnen Landesteilen, zur Umverteilung des ungleichen Landbesitzes und zur Förderung der Industrieansiedlungen, zur administrativen Neuordnung des Staatsgebietes oder zur Steigerung der Bildungsanstrengungen unterlag in Zagreb dem Verdacht der einseitigen Begünstigung serbischer Interessen. Der kroatische Bauernführer Stjepan Radić betrieb mit nationalistischen Forderungen eine Fundamentalopposition. Er pochte weiterhin auf die uneingeschränkte Souveränität Kroatiens und forderte die Beachtung des Selbstbestimmungsrechtes. Am 24. Dezember 1924 ließ Pašić seinen Gegenspieler inhaftieren. Radićs taktische Loyalitätserklärung ebneten den Weg für eine vorübergehende Regierungsbeteiligung der Kroatischen Bauernpartei; für eine politische Lösung des Verfassungsstreites zwischen Zentralisten und Föderalisten fehlte aber weiterhin auf beiden Seiten die Verständigungsbereitschaft. Am 20. Juli 1928 wurde Radić bei einem Revolverattentat von einem fanatisierten montenegrinischen Abgeordneten in der Skupschtina tödlich verwundet. Zur Abwendung der drohenden Staatskrise suspendierte König Alexander am 6. Januar 1929 die Verfassung und legte sich diktatorische Vollmachten zu. Er nutzte sie zu einer Entmachtung der Parteien und am 3. Oktober 1929 zu einer Neugliederung des Landes, die keine Rücksicht auf historische Gegebenheiten nahm. Staatsname wurde nun »Jugoslawien«.Für die kroatische Seite war das Zusammenleben in einem gemeinsamen Staat ohne eine Änderung der Verfassung im Sinne ihrer Interessen weiterhin nicht akzeptabel. Nach der Ermordung des Königs in Marseille am 9. Oktober 1934 kamen unter dem Regenten Paul substanzielle Gespräche in Gang. Der Führer der Kroatischen Bauernpartei Vladko Maček und Ministerpräsident Dragiša Cvetković handelten am 26. August 1939 eine »Einigung« aus, die Kroatien weitgehende Autonomie zugestand. Praktisch umgesetzt wurde sie bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nicht.Jugoslawien im Zweiten WeltkriegJugoslawiens Versuch, mit dem Beitritt zum Dreimächtepakt die Einkreisung durch das nationalsozialistische Deutschland und dasfaschistische Italien zu durchbrechen, löste eine verhängnisvolle Kettenreaktion aus. Ein Militärputsch in Belgrad beendete am 27. März 1941 die Regentschaft Pauls und brachte den noch minderjährigen Peter II. auf den Königsthron. Am Morgen des 6. April 1941 holte Hitler ohne Vorwarnung zum Gegenschlag aus und ließ Belgrad von der deutschen Luftwaffe bombardieren. Der Widerstand der jugoslawischen Truppen brach innerhalb weniger Tage zusammen. Belgrad fiel am 12. April 1941 in deutsche Hand. Das Staatsgebiet Jugoslawiens wurde zur Verfügungsmasse der Achsenmächte und unter den Verbündeten aufgeteilt. In Kroatien entstand unter Hitlers Gnaden der Ustascha-Staat des Poglavnik (Führer) Ante Pavelić, der mit seiner Juden- und Serbenverfolgung eine blutige Erinnerung hinterließ. Der verbleibende serbische Kernraum wurde deutscher Militärverwaltung unterstellt.Prof. Dr. Edgar HöschWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:Jugoslawien: BürgerkriegGrundlegende Informationen finden Sie unter:Nationalitätenfrage: »Pulverfass Balkan« - Nationalitätenkonflikte im 19. JahrhundertÖsterreich-Ungarn: Nationale Fragen in der DonaumonarchieBartl, Peter: Grundzüge der jugoslawischen Geschichte. Darmstadt 1985.Sundhaussen, Holm: Experiment Jugoslawien. Von der Staatsgründung bis zum Staatszerfall. Mannheim u. a. 1993.Sundhaussen, Holm: Geschichte Jugoslawiens. 1918-1980. Stuttgart u. a. 1982.Suppan, Arnold: Jugoslawien und Österreich 1918-1938. Bilaterale Außenpolitik im europäischen Umfeld. Wien u. a. 1996.
Universal-Lexikon. 2012.